Dem Klang auf der Spur: Indiens Zikaden aus der Vergessenheit holen

  • Zwei neue Zikadenarten wurden in den Western Ghats entdeckt, eine in Goa und die andere im Kodagu-Distrikt von Karnataka.
  • Die Entdeckungen stellen eine neue Welle des Interesses indischer Wissenschaftler an diesen bisher kaum untersuchten Insekten dar.
  • Zikaden sind mit ihren lauten Rufen ein wichtiger Bestandteil der „Geräuschkulisse“ von Ökosystemen und sind gute Indikatoren für den Gesundheitszustand der Wälder.
  • Bestehende Daten über indische Zikaden sowie neue Forschungsergebnisse sollen auf der Website indiancicadas.org gespeichert werden, einem Portal, das als Citizen-Science-Initiative aufgebaut ist und auf dem jeder Interessierte kostenlos Daten/Informationen hochladen und abrufen kann.

An einem nassen Regentag im Jahr 2014 war Kiran Marathe im Bezirk Verlem in Süd-Goa damit beschäftigt, nach lauten, zirpenden Zikaden zu suchen, die sich im Gebüsch versteckten. Marathe, ein junger Forscher im Alter von 20 Jahren vom National Centre of Biological Sciences (NCBS) in Bengaluru, arbeitet an einer der am wenigsten erforschten Insektenarten Indiens – den Zikaden. Seit 2013 durchkämmt er die Western Ghats auf der Suche nach Zikaden.

Am 16. Juni 2014 hörte Marathe in Verlem auf seiner Suche nach lauten Zikaden ein schwaches „Crick“-ähnliches Geräusch. „Ich war fasziniert, denn es klang wie eine Zikade, aber nicht laut genug“, sagte er. Nach einigem Herumstochern entdeckte er eine wirklich winzige Zikade. Zuerst sah er nur eine, aber schon bald entdeckte er mehrere von ihnen auf den Unterseiten der Blätter von Büschen.

Es regnete und Marathes Ausrüstung verweigerte den Dienst. Seine Kamera ließ sich nicht einschalten, und leider hatte er an diesem Tag auch kein Tonaufnahmegerät dabei. Er konnte keine Bilder machen und keinen Ton aufnehmen, aber es gelang ihm, mehrere Proben der winzigen Zikade zu sammeln.

Anatomische Untersuchungen der Proben ergaben, dass es sich bei der winzigen Zikade um eine neue Art handelte, die Marathe und seine Kollegen aufgrund ihrer geringen Größe Rustia minuta nannten.

Fast drei Jahre nach jenem Tag in Verlem fanden Marathe und seine Kollegen im Juli 2017 eine weitere neue Zikadenart, diesmal auf dem Landgut Honey Valley im Bezirk Kodagu (Coorg) in Karnataka. Wiederum eine kleine Zikade, aber größer als die Verlem-Variante und definitiv viel lauter, wurde diese neue Art Rustia kodagura genannt.

Die beiden neuen Zikadenarten, Rustia minuta (links) und Rustia kodagura (rechts). Es handelt sich um Exemplare, die im Museum des NCBS aufbewahrt werden. Foto von Kiran Marathe.

Zikaden: „perfekte“ Insekten

In taxonomischer Hinsicht sind Zikaden „perfekte“ Insekten. Sie gehören zur gleichen Insektenfamilie wie Blattläuse und Heuschrecken. Ihre Größe variiert stark, von sehr kleinen Arten wie Rustia minuta mit einer Länge von 9-10 Millimetern bis hin zu Arten, die bis zu sieben Zentimeter lang werden können.

Ihr Lebenszyklus kann jährlich oder periodisch sein, d. h. einige leben und sterben innerhalb eines Jahres, während andere über einen längeren Zeitraum, verteilt über mehrere Jahre, leben. In jedem Fall verbringen sie einen großen Teil ihres Lebenszyklus im Nymphenstadium unter der Erde. Erst wenn sie bereit sind, sich in ein erwachsenes Tier zu verwandeln, schlüpfen sie aus dem Boden.

Der Chorus der Natur. Video von Kartik Chandramouli/Mongabay.

Alle bekannten indischen Zikaden sind einjährig, außer einer – Chremistica Ribhoi aus Meghalaya. Diese Zikaden, die im Distrikt Ribhoi in Meghalaya vorkommen und nach denen sie benannt sind, werden lokal Niangtaser genannt und sind Teil vieler Legenden. Eine davon besagt, dass Niangtaser eine alte Frau aus einem Dorf war, die sich in eine Zikade verwandelte. Eine andere Legende besagt, dass die Niangtaser-Zikaden Massenselbstmord begehen, indem sie sich in schnell fließenden Flüssen ertränken, da sie vom Rauschen schnell fließender Flüsse angezogen werden.

Abgesehen von den Mythen und Legenden ist diese Zikade vor allem für ihren periodischen Lebenszyklus bekannt, der sich über einen Zeitraum von vier Jahren erstreckt. Seltsamerweise ist ihr periodisches Auftauchen synchron mit der Fußballweltmeisterschaft, die ebenfalls alle vier Jahre stattfindet. Kein Wunder, dass man sie die „WM-Zikaden“ nennt.

Der Gesang der Zikade

Das charakteristischste Merkmal der Zikaden liegt nicht in ihrer Morphologie, sondern in ihrem Gesang. Der Gesang der Zikade hat die Phantasie vieler Dichter und Schriftsteller angeregt. Selbst Forscher, die sie studieren, folgen der Spur ihres Gesangs, um sie zu finden.

Der Gesang wird ausschließlich von den Männchen erzeugt, die singen, um weibliche Partner anzulocken. Zikaden singen nicht wie Menschen mit ihrem Mund. Stattdessen benutzen sie spezielle Strukturen, die sogenannten Tymbeln, auf jeder Seite des Hinterleibs, um ihre charakteristischen Laute zu erzeugen. Die Zimbeln sind dünne membranartige Strukturen, die von etwas dickeren Rippen durchzogen sind.

Wiederholte Vibrationen in der Membran der Zimbel führen zu Tönen. Wenn sich die Membran wölbt, werden die Rippen nach innen und zusammen gezogen. Und wenn die Membranen losgelassen werden, breiten sich die Rippen wieder aus. Die Zikaden wiederholen diese Bewegung 300-400 Mal pro Sekunde, um ihren charakteristischen Ton zu erzeugen. Jede Art hat ihren eigenen spezifischen Ruf.

Das Exoskelett einer Zikade an einem Baum. Diese rätselhaften Insekten müssen weiter erforscht werden. Foto von Rajesh Sanap.

Abgesehen von ihrer Rolle bei der Partnersuche ist der kollektive Klang der Zikaden ein „sehr guter Indikator für die Gesundheit des Waldes“, sagt S.R. Hajong von der North Eastern Hill University in Shillong. Hajong studiert die Zikaden des Nordostens nun schon seit zehn Jahren. Er war derjenige, der die Weltcup-Zikaden zum ersten Mal beschrieben hat.

Einige Wissenschaftler beginnen, akustische Indizes zu erstellen, um den Gesundheitszustand der Artenvielfalt zu messen. Die Zikaden mit ihren lauten Rufen sind ein wichtiger Bestandteil der Geräuschkulisse. Auch Hajong hofft, solche akustischen Indizes erstellen zu können, um die Gesundheit der Wälder im Nordosten Indiens, wo er arbeitet, zu bewerten.

https://imgs.mongabay.com/wp-content/uploads/sites/30/2018/10/09183130/C-ribhoi-from-forest-of-Saiden-village-Meghalaya-Edit.mp3

Ruf der „Weltcup“-Zikade, Chremistica Ribhoi aus Meghalaya. Audio von S.R. Hajong, North-Eastern Hill University.

Indiens Zikaden

Marathes Arbeit und die Entdeckungen haben endlich einen langen Bann des Desinteresses an indischen Zikaden gebrochen. Bekannt für ihre rätselhaften Lebenszyklen, von denen sie einen großen Teil unter der Erde verbringen, sind Zikaden leicht zu finden – vor allem, wenn man der Spur ihrer Geräusche folgt.

In Indien sind etwa 250 Zikadenarten bekannt. Sie verteilen sich auf viele Gattungen, und Rustia ist nur eine von ihnen. Unser Wissen über indische Zikaden ist jedoch nahezu unbedeutend. Das liegt zum Teil daran, dass nach der Unabhängigkeit nur sehr wenige Anstrengungen unternommen wurden, um diese Insekten zu untersuchen und zu dokumentieren.

Marathe ist Teil eines Labors am NCBS, das von Krushnamegh Kunte geleitet wird und in dem eine Bestandsaufnahme der indischen Zikaden durchgeführt wird. Alle Daten über indische Zikaden aus der Zeit vor der Unabhängigkeit befinden sich heute im Natural History Museum (NHM) in London. Um diese Daten der indischen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung zu stellen, hat sich Kunte mit Benjamin Price vom NHM zusammengetan, der alle seit der Kolonialzeit im NHM gelagerten Exemplare indischer Zikaden akribisch fotografiert hat.

Eine Zikade, die sich mit ihrem Baum vermischt. In Indien gibt es rund 250 identifizierte Zikadenarten. Foto von Rajesh Sanap.

Insgesamt wurden 281 Arten fotografiert/digitalisiert, von denen 189 aus dem heutigen Indien und Bangladesch, 19 aus Bhutan, 81 aus Myanmar, 46 aus Nepal und 22 aus Sri Lanka stammen.

Alle diese Informationen sind jetzt auf der Website indiancicadas.org verfügbar. Die Website ist als Citizen-Science-Initiative aufgebaut, bei der sowohl Forscher als auch Nicht-Forscher dazu aufgerufen sind, weitere Daten über Sichtungen und andere naturkundliche Informationen über indische Zikaden zu hinterlegen.

Der Beginn einer neuen Beziehung

Während wir mehr und mehr über die indischen Zikaden erfahren, werden Lücken in unserem Wissen über diese rätselhafte Insektenart geschlossen und Mythen zerschlagen. So hat die Arbeit von Marathe gezeigt, dass die Zikadengattung Gudaba eigentlich überflüssig ist und mit der Gattung Rustia zusammengelegt werden sollte. Beide Gattungen wurden vor fast einem Jahrhundert geschaffen, aber erst jetzt, mit den jüngsten Forschungen, ist das Fehlen jeglicher Unterschiede zwischen den beiden Gattungen offensichtlich geworden.

Und dann ist da noch der Fall des Silent Valley. Die Geschichte besagt, dass die Briten, als sie das Gebiet entdeckten, das heute Silent Valley National Park heißt, feststellten, dass es dort keine Zikadengeräusche gab. Sie fanden die Region so ruhig, dass sie sie sogar Silent Valley nannten. Marathe ist mit dieser Theorie jedoch nicht einverstanden. „Sie ist nicht wahr“, sagt er. „Im Stillen Tal gibt es Zikaden! Die Briten müssen dorthin gegangen sein, als es noch keine Zikaden gab!“

Wer weiß, wie viele solcher taxonomischen Irrtümer und Mythen entlarvt werden, wenn wir mehr über diese Insekten herausfinden und lernen, unsere Ohren offen zu halten und auf den Gesang der Zikaden zu achten.

ZITAT:

Marathe, K., Sanborn, A. F., & Kunte, K. (2018). Revision der Gattung Rustia Stål, 1866 (Hemiptera: Cicadidae: Cicadinae) einschließlich einer Gattungssynonymie, vier neuen Kombinationen und zwei neuen Arten aus den Western Ghats, Indien. Zootaxa, 4457(3), 431-443.

Schreibe einen Kommentar